Was ich habe, das gebe ich dir

Gesundheit und Heilung in einer verletzten Welt

In der neuen Ausgabe unseres Magazins blickt Michael Kuhnert, Leiter von medmissio, auf die Gründung und Arbeit der Organisation, die in den 20er Jahren vom Salvatorianer Pater Christophorus Becker ins Leben gerufen wurde. Die ungekürzte Fassung des Artikels finden Sie hier. 

 Am 3. Dezember 1922 wurde trotz erheblicher finanzieller Schwierigkeiten und grassierender Inflation das Missionsärztliche Institut in Würzburg als erstes Laieninstitut Deutschlands unter der Mitwirkung von Missionsorden gegründet. Der Beschluss zu dieser Gründung und deren Mitfinanzierung erfolgte nach zähem Ringen nur drei Wochen vorher durch das positive Votum von 17 Superioren verschiedener Missionsorden. Als erster Direktor des Instituts wurde der ehemalige Apostolische Präfekt von Assam, Pater Dr. Christophorus Becker SDS ernannt. Er hatte sich nach dem ersten Weltkrieg unermüdlich und mit großer Frustrationstoleranz zum Wortführer der missionsärztlichen Bewegung und der Gründung eines Missionsärztlichen Instituts gemacht.  Mit dem Institut sollte die medizinische Fürsorge in den Missionsgebieten durch bestens vorbereitete (Missions-) Ärzte und Ärztinnen gestärkt und damit der Heilungsauftrag Jesu (Lk 10,9) konsequent und professionell zum Wohle der Armen in den Missionsländern umgesetzt werden.

Das Missionsärztliche Institut, das sich seit 2022 medmissio nennt, sandte in den ersten 50 Jahren nach seiner Gründung 73 Ärztinnen, 88 Ärzte, 102 Pflegekräfte und 16 weitere Vertreter anderer medizinischer Berufe zur Mitarbeit in oder zur Gründung von Missionshospitälern und Gesundheitsstationen in Afrika, Asien und Lateinamerika aus. Über Dekaden war ihr Wirken angesichts der vielen „weißen Flecken“ auf der Weltkarte der mangelnden Gesundheitsversorgung zurecht kurativ geprägt sowie um die Aus- und Weiterbildung lokalen medizinischen Personals bemüht.

Spätestens seit der Deklaration von Alma-Ata 1978 liegt der Fokus der Heilungsbemühungen auf der sog. primären Gesundheitsversorgung: Durch sie soll die Gesundheit durch adäquate Ernährung, Ernährungssicherheit und einen möglichst gesunden Lebensstil gefördert werden. Krankheiten sollen durch Prävention, also durch Aufklärung, Impfungen und die Verbesserung der Hygiene sowie der Wasserversorgung verhindert werden und es muss Sorge dafür getragen werden, dass alle Menschen, also vor allem die Armen Zugang zu medizinischer Behandlung haben.  Außerdem müssen Rehabilitations- und Palliativmöglichkeiten für all jene Menschen angeboten werden, deren Erkrankungen und Gebrechen nicht mehr geheilt, aber gelindert werden können.

Die medizinischen Experten von medmissio begleiten, beraten und schulen deshalb heute u.a. lokale kirchliche Krankenhäuser und Gesundheitssysteme bei der Umsetzung dieses integralen Gesundheitsansatzes. Dies geschieht häufig im Auftrag von Hilfswerken und Ordensgemeinschaften, wie z.B. in den Gesundheitseinrichtungen der Salvatorianerinnen in Kolwezi/Kongo.

Medmissio geht es in Treue zu seinem Gründungsauftrag darum, die medizinische Versorgung der Armen nicht nur in den ehemaligen Missionsländern, sondern überall auf der Welt grundlegend zu verbessern und ihnen das Recht auf eine adäquate Gesundheitsversorgung zu ermöglichen. Denn: „Heilt die Kranken, die dort sind“ (Lk 10,9) bedeutet heute, niemanden mehr zurückzulassen! Erfreulicherweise haben sich alle Staaten der Erde 2015 bei der Formulierung der Nachhaltigen Entwicklungsziele (SDGs) genau dazu verpflichtet: „Wir versprechen, niemanden auf dieser gemeinsamen Reise, die wir heute antreten, zurückzulassen“. Sie waren sich eins, bis 2030 „ein gesundes Leben für alle Menschen jeden Alters zu gewährleisten und ihr Wohlergehen zu fördern‘“ (SDG 3).

Bis zur Corona-Pandemie wurden zwar einige Fortschritte bei der medizinischen Grundversorgung armer Menschen gemacht. So konnten z.B. die Kinder-, Säuglings- und Müttersterblichkeit gesenkt werden. Aber alles in allem kann von einer signifikanten Verbesserung der Gesundheitsversorgung armer Menschen keine Rede sein, denn 2019

  • starben 1,4 Millionen Menschen an Tuberkulose, davon 208.000 HIV-positive Patienten
  • infizierten sich 229 Millionen Menschen neu an Malaria und 409.000 starben an dieser Infektionskrankheit
  • Mindestens zwölf Millionen HIV-Infizierte hatten keinen Zugang zur lebens-rettenden antiretroviralen Behandlung, 690.00 Menschen starben an HIV und 1,7 Millionen infizierten sich neu
  • 2,4 Millionen Neugeborene und weitere 2,8 Millionen Kinder unter fünf Jahren verstarben auf Grund des Mangels an medizinischer Grundversorgung
  • rund 290.000 Frauen verloren während ihrer Schwangerschaft oder unmittelbar nach der Geburt ihr Leben
  • 20 Millionen Kinder hatten ihre Schutzimpfungen nicht komplett erhalten, 13 Millionen von ihnen hatten keine einzige Impfung bekommen
  • 000 Menschen infizierten sich neu an Lepra und 1,74 Milliarden Menschen litten unter den 19 anderen sog. vernachlässigten Tropenerkrankungen, wie Chagas, Schistosomiasis oder Dengue
  • 2,1 Milliarden Menschen hatten keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser und 4,3 Milliarden konnten keine sicheren Sanitäranlagen nutzen
  • 822 Millionen Menschen hungerten und
  • mehr als 80% jener Menschen, die unter Beeinträchtigungen ihrer psychischen Gesundheit leiden, hatten keinen Zugang zu psychologischer oder psychiatrischer Behandlung

Spätestens angesichts dieser Zahlen und den damit verbundenen Schicksalen, Leiden und Tragödien gilt es sich einzugestehen, dass bereits vor der Pandemie zu wenig in die globale Gesundheit und in den Aufbau belastbarer, gut ausgestatteter und ebenso gut funktionierender, allen zugänglichen Gesundheitssysteme investiert worden war, so dass es keine Überraschung ist, dass sich durch die Pandemie die weltweite Gesundheitsversorgung nochmals verschlechtert hat. Anders ausgedrückt: Der Einsatz für mehr Gesundheit in der Einen Welt glich schon vor Covid-19 einer lahmen Ente. Und der wurden durch das Virus auch noch die Flügel gestutzt.

Eigentlich wäre zu erwarten gewesen, dass während und nach der Pandemie das Bewusstsein für die überragende Bedeutung von Gesundheit und Solidarität steigt, weil „keiner sich allein retten kann“ und „wir in einer kranken Welt nicht gesund bleiben können“. Aber diese Mahnung von Papst Franziskus anlässlich seines Gebets im Angesicht der Pandemie am 27. März 2020 ist nahezu ungehört verhallt.  Wir machen weiter wie gehabt, lassen uns von Kriegen und weltweiter Ungerechtigkeit nicht aufrütteln und hören nicht auf den Schrei der Armen und unseres schwer kranken Planeten.

Die globale Gesundheit hat sich deshalb seit der Pandemie nochmals verschlechtert und es gibt derzeit keinerlei Anzeichen dafür, dass angesichts der soeben skizzierten skandalösen Zustände und millionenfachen Toten wesentlich mehr Anstrengungen unternommen werden, um die Gesundheitsversorgung der Armen grundlegend zu verbessern. Im Gegenteil: Der amerikanische Präsident streicht z.B. rigoros und völlig herzlos die Mittel von UNAIDS und der Gavi-Impfallianz zusammen, so dass eminent wichtige (HIV-)Gesundheits- und Impfprogramme eingestellt werden, was in den nächsten Jahren zu Millionen vermeidbarer Sterbefälle führen wird, falls sich die Weltgemeinschaft und die reichen Länder nicht zusammenraufen, um Mister Trump die Leviten zu lesen und die durch ihn aufgerissenen Finanzierungslücken für die globale Gesundheit zu decken.

Unermessliches Leid durch die Kriege in der Ukraine, im Gaza, im Nahen Osten, im Sudan. Weltweit so viele Flüchtige wie noch nie. Ständig steigende Temperaturen, Dürren, Waldbrände, Ernteausfälle, Überschwemmungen. Und trotzdem lässt sich ein Großteil der Menschheit und anscheinend auch der Christen von diesen Kriegen und der weltweiten Ungerechtigkeit nicht aufrütteln und sie hören immer noch nicht auf den Schrei der Armen und unseres schwer kranken Planeten. Stattdessen nimmt die Solidarität ab und der Nationalismus zu. Die Demokratie ist in ernster Gefahr und das Desinteresse vieler Entscheidungsträger, sich an Regeln und Gesetze zu halten, wird immer größer. Wir leben weiß Gott in einer heillosen Welt und es fällt schwer, nicht an ihr zu verzweifeln.

Gerade deswegen brauchen wir in dieser scheinbar heillosen Zeit Menschen, die trotz der Situation wie sie eben ist, nicht den Kopf in den Sand stecken und sich um ihre Verantwortung drücken, sondern das geben, was sie haben.  Menschen, die stur den Heilungsauftrag Jesu ernst nehmen und alles ihnen Mögliche tun, um die Gesundheit der Armen zu verbessern. Menschen wie Petrus vor 2000 Jahren, als er dem Gelähmten am Schönen Tor des Tempels zurief: „Silber und Gold besitze ich nicht. Doch was ich habe, das gebe ich dir: Im Namen Jesu Christi, des Naziräers, geh umher“ (Apg 3,6).

Pater Christophorus Becker hatte weder Silber noch Gold, als er in der heillosen Zeit vor gut 100 Jahren das Missionsärztliche Institut gründete. Und weder medmissio noch die Ordensgemeinschaften und erst recht nicht unsere Partner in den Ländern des Südens haben genug Mittel, um die riesigen Finanzierungslücken zur Verbesserung der globalen Gesundheit zu stopfen. Aber wir setzen mit unseren Gesundheitsprojekten gemeinsam ganz entscheidende Zeichen der Solidarität und des Miteinanders, um Menschen aufzurichten und ihnen Würde und Hoffnung zu geben. Es ist uns nicht möglich, alle Menschen gesund zu machen. Aber wir können vielen von ihnen zur Seite stehen und ihre Leben und Lebensumstände heiler machen. Wir können dem politischen und gesellschaftlichen Desinteresse am Schicksal der Armen unser Engagement entgegensetzen. Wir können Leiden mindern, Menschen aufrichten, Leben retten und die Welt etwas gerechter machen. Das ist, recht betrachtet, schon sehr viel. Und es wird durch die Gaben anderer noch viel mehr!

Michael Kuhnert

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